Manhole Covers

KUNSTWERKE IM ASPHALT

Aufgabe der Künstler und Fotografen ist es, uns sehen zu lehren. Als ich das erste Mal nach New York kam, war mir das Stadtbild aus den Zeichnungen Saul Steinbergs längst vertraut, und wie alte Bekannte begrüßte ich die etwas unheimlichen Dampfwölkchen, die allenthalben aus den Kanalisationsdeckeln zischen. Sie muteten mich an wie Sendboten einer Unterwelt, die, nur durch eine dünne Asphalthaut von dem Stahl- und Glasgeglitzer der Wolkenkratzer getrennt, rumort und brodelt.

Kurz bevor ich das zweite Mal hinüberfuhr, begegnete ich dem Fotografen Walter Schels, der mir seine Aufnahmen von New Yorker Kanaldeckeln zeigte. Noch unter dem Eindruck dieser Bilder, begann ich an Ort und Stelle auf die erstaunliche Mannigfaltigkeit und grafisch-plastische Schönheit dieser gusseisernen Gebilde zu achten. Schnell wurde aus dem Interesse eine Passion, die den Blick von Häusern und Menschen ablenkte und hinunterzog zu diesen Zeugen einer Epoche, da man ein siebzehnstöckiges Gebäude als Weltwunder bestaunte. Millionen und Abermillionen Wagenräder, Autoreifen und Schuhsohlen sind über sie hinweggegangen und haben doch nur ein paar Millimeter ihrer Substanz abwetzen können. Und nicht abzuschätzen ist der Zeitraum, der nötig wäre, um die ihnen eingegossenen Ornamente und Buchstaben schließlich ganz zu tilgen.

So sind die Kanaldeckel das einzige Dauernde in einer Stadt, die sich so schnell verbraucht und erneuert, dass ein Jahrzehnt dort ebenso große stilistische Veränderungen zeitigt, wie man sie im alten Europa im Laufe eines Jahrhunderts beobachtete. Und sie werden sich auch noch behaupten, wenn die gebündelten Türme der jüngsten Wolkenkratzer längst durch noch Gewaltigeres ersetzt sein werden.

Eines sehr fernen Tages wird man sie dann ausgraben und im Museum ausstellen als Überbleibsel einer Mammutstadt, von der es heißen wird, sie sei im 20. Jahrhundert nach Christi Geburt die Kapitale der Welt gewesen.
Manuel Gasser in „du – Kulturelle Monatsschrift“, April 1970