Hände

titel, thesen, temperamente (VIDEO)zum BuchFür Hände interessiere ich mich, seit ich denken kann. Erinnere ich mich an meine Eltern und an meine fünf Geschwister, die alle nicht mehr leben, sehe ich ihre Hände klar vor mir. Die schweren Arbeiterhände meines Vaters, der mit einem Lastwagen Mehl ausfuhr und die zentnerschweren Säcke in die Speicher der Bäcker schleppte. Die kräftigen, beinahe maskulinen Hände meiner Mutter, ebenso geprägt von der Strapaze der alltäglichen Arbeit. Meine älteste Schwester Martha hatte fast grobe, knochige Hände, sie war sehr fromm, opferte sich auf, betete, fastete. Ritas hände waren zarter, aber auch nicht weich. Sie war eher geneigt, ihr Leben zu genießen, traute sich aber nicht so recht. Mein Bruder Norbert hatte sinnlichere, weiche Hände. er spielte Zither und Flöte in einer Kapelle und war ein guter Tänzer. Helmut hatte die kräftigen Hände meiners Vaters, er ergriff jedoch einen Beruf, bei dem diese nicht von Nutzen war: Schneider. Nur an Gottfrieds Hände habe ich keine Erinnerung, er fiel im Krieg, als ich vier oder fünf Jahre alt war.
Schon als Kind habe ich darüber gegrübelt, wie unterschiedlich unserer Hände waren, obwohl wir doch die gleichen Eltern hatten.
Oft sagt man, Hände verraten etwas über Menschen. Ich mag diesen Satz nicht. Hände verraten nichts. Sie machen aber sehr wohl etwas sichtbar, genauso wie Gesicht oder Ohren oder die Iris eine Menschen oder ein Bluttest oder eine Genanalyse. Denn sie gehören zum individuellen physischen Ausdruck seiner genetischen Anlage. Allerdings würde man eine Genanalyse wohl eher nicht veröffentlichen. Gesicht und Hände dagegen tragen wir offen mit uns herum. Mir hat die Beschäftigung mit Handlinien, auch mit meinen eigenen, gehlofen, michselbst zu akzeptieren, als derjenige Mensch, der ich bin, mit all meinen Anlagen, auch jenen, die ich ablehne.
Anfangs war ich oft zu schüchtern, bei einem Porträttermin meinen Wunsch zu äußern, auch die Hände zu fotografieren, weil ich wusste, die meisten wollen dafür eine Erklärung. Ich war in New York bei Andy Warhol in seiner Fabrik. Wir verstanden uns gut, aber ich habe mich nicht getraut, ihn zu fragen, ob ich seine Hände fotografieren darf. Hinterher habe ich bereut, dass ich so feige war. In früheren Zeiten war es selbstverständlich, von Personen der Zeitgeschichte nicht nur das Porträt des Gesichts anzufertigen, sondern genauso das der Hände. Goethe, Strawinsky, Stalin – von allen gibt es Gipsmasken, Handabdrücke oder Handzeichnungen.
Heute sage ich auf die Frage nach dem Warum einfach: Weil es mich interessiert. Weil es ein Dokument ist Weil sich Menschen schon vor Jahrtausenden für Hände interessiert haben und weil sie das vermutlich auch in ferner Zukunft tun werden.