Hunde

Wenn ich in meinem Studio in Hamburg aus dem Fenster schaue, fällt mein Blick auf eine städtische Hundewiese. Hätte ich nicht so viel Arbeit, könnte ich ganze Tage damit zubringen zu beobachten, wie die Hunde dort unten herumspringen und ihre Schnupperbeziehungen pflegen. Anfangs war es ein mit Maschendraht hoch umzäuntes Stück Rasen mit Bänken für die Hundebesitzer. Es kamen aber so viele Hunde, und sie nutzten die Wiese so intensiv, dass dort schon lange kein Gras mehr wächst. Wenn es regnet, löst sich das Areal in Matsch auf. Im Sommer ist der Boden oft hart wie Beton. Den Hunden scheint das aber nichts auszumachen. Und sie haben ja auch keine Wahl. 

Es sind typische Stadthunde. Kaum ein großer Hund ist dabei, die meisten sind winzig – Pinscher, Chihuahuas, Möpse, Dackel. Sie leben in Wohnungen, und wenn sie auf die Straße kommen, dürfen sie nicht ohne Leine laufen. Sehe ich solch einen Hund vor dem Supermarkt, angehängt an einer Schnur, dann habe ich Mitleid. Sympathie mit dem Gefangenen. Dieses Stubenhockerdasein ist überhaupt nicht hundegerecht. 

Wenigstens ein paar Sprünge zu machen ist selbst für Schoßhündchen ein elementares Bedürfnis. Wie viel Temperament in den Tieren steckt, sehe ich, wenn sie in diesem beschränkten Raum unter meinem Studiofenster miteinander toben und ihre Bewegungsfreiheit auskosten. Ihre Freude und ihr Eifer, wenn ihre Menschen sie mit Stöckchen und Bällchen bedienen, kennt keine Grenzen. Erst recht nicht, wenn ein attraktiver potenzieller Partner auftaucht. Was das betrifft, erinnert mich die Hundewiese an ein großes Casting. Nur dass beim Hund nicht die Schönheit zählt, sondern der Geruch. 

Bis vor einigen Jahren wohnte im Fotostudio gegenüber ein kleiner schwarzer Mischlingshund, den meine Nachbarin im Urlaub in Spanien auf der Straße aufgelesen hatte. An ihm konnte man sehen, wie der Umgang mit Menschen den Hund menschlich macht. Chacho war intelligent und gelehrig. Schnell wurde er ein typischer Schoßhund. Dabei zeigte er durchaus Würde und eine distanzierte Persönlichkeit, deren Ursprung ich in seiner Straßenvergangenheit vermutete. Ich habe ihn oft fotografiert. Und obwohl er keiner der geschulten „Fotohunde“ war, mit denen ich für Werbefotos oft zu tun hatte, gewährte er mir eine Porträtsitzung im Studio – ein Vertrauensbeweis. 

Damals hatten wir ein kleines Ritual miteinander entwickelt. Jeden Morgen wartete der Hund vor meiner Studiotüre. Sobald ich ihm öffnete, schoss er herein und blieb wie angewurzelt vor dem Kühlschrank stehen. Er wusste, darin lag Salami, extra für ihn. Jeden Morgen schnitt ich drei kleine Stückchen davon ab, kleiner als Zuckerstückchen, er sollte ja nicht dick werden. Ich hielt ein Salamiwürfelchen in die Höhe, und Chacho machte Männchen, bis ich das Wurststückchen in sein geöffnetes Maul fallen ließ. Genau dreimal wiederholten wir das, anschließend zog er ab. Er wusste, es wäre sinnlos gewesen zu betteln. Und offensichtlich konnte er zumindest bis drei zählen. 

Ich selbst möchte keinen Hund halten, ich könnte seinen Bedürfnissen nicht gerecht werden. Aber ich bin mit Hunden, Katzen und Schweinen groß geworden. Zu Tieren hatte ich damals eine innige Beziehung, anders als zu den Menschen um mich herum. Das kam erst viel später. Aber ich spüre immer noch eine große Zuneigung zu Tieren.  

In meiner Kindheit war Blasso, unser Schäferhund, mein engster Begleiter. Mein älterer Bruder hatte ihn als Welpen geschenkt bekommen und seine Erziehung übernommen, aber später hatte er wenig Zeit für den Hund. Blasso musste etwas leisten, damit er etwas zu fressen bekam; er musste auf unser Haus aufpassen. Nachts kam er an die Kette. Der Hund hatte einen ausgeprägten Sinn für Hierarchie. Sein Futter bekam er fast immer von meinem Vater. Er war der Einzige, der ihm nahe kommen durfte, während er fraß. Ihn akzeptierte Blasso als Alphatier. Dabei zeigte mein Vater dem Hund keinerlei Sympathie. Nie streichelte er ihn. Blasso bekam vor allem Fleischabfälle vom Pferdemetzger. Aber auch die kosteten Geld, das mein Vater mühsam verdienen musste, mit dem Ausfahren zentnerschwerer Mehlsäcke. Aus seiner Sicht war der Hund neben seinen sechs Kindern ein weiteres Maul, das er stopfen musste.

Ich war zu Hause der Jüngste, ein verschlossenes Kind. Die ganze Welt war mein Gegner, so empfand ich das. Keiner durfte mich berühren, nicht meine Mutter, nicht meine Geschwister. Aber Blasso, den Hund, habe ich umarmt und gestreichelt. Blasso und ich waren Freunde. Ich glaube, das hat der Hund auch so empfunden. Als Kind lag ich oft lange im Krankenhaus. Ich hatte eine Knochenkrankheit und musste mehrfach an den Beinen operiert werden. Kehrte ich auf Krücken wieder nach Hause zurück, zeigte der Hund immer die größte Freude über das Wiedersehen. 

Und trotzdem habe ich etwas getan, was mir leidtut, wenn ich heute daran denke: Ich habe meinen Freund dressiert. Immer wieder ließ ich ihn in unserem Garten über eine Mauer springen, die eigentlich zu hoch für ihn war. Im Nachhinein würde ich sagen, ich habe ihn dressiert, weil ich ein Ventil suchte. Ich habe an dem Hund meinen Zorn auf die ganze autoritäre Erwachsenenwelt ausgelasssen, auf die Lehrer, die Nazizeit mit ihren Zwängen und Befehlen. 

Es muss schon in meiner Lehrzeit als Schaufensterdekorateur gewesen sein, als jemand Blasso vergiftete. Es war wohl unsere Nachbarin. Es störte sie, dass er bei Vollmond nachts bellte. Ich habe damals meinen alten Freund beerdigt. Er bekam im Garten ein Grab, das ich ausschaufelte, mit einem Kreuz darauf. 

Die Solidarität, die ich bis heute gegenüber Hunden verspüre, wurzelt in diesen Erlebnissen. Eine Hauskatze hat noch die Freiheit, herumzulaufen und eine Maus zu fangen. Der Wolf sucht sich ein Schaf. Für den Hund ist das vorbei. Er ist abhängig vom Menschen, seit er sich nicht mehr selbstständig sein Fressen suchen muss. Im Tausch für diese Abhängigkeit bekommt er im besten Fall unsere Zuneigung.